Dieter Wellershoff

Inszenierte Wahrnehmung. Zu den Bildern dieser Ausstellung

[…] Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf zwei Grundverfahren künstlerischer Inszenierung eines Wahrnehmungsfeldes hinweisen: die Vereinfachung und die Problematisierung. Sieht man sich zum Beispiel die Fotos von Andreas Müller-Pohle an, dann fällt sofort die weitgehende Entleerung des Bildfeldes und die kompositorische Strenge auf. Es sind Bilder, in denen die Erscheinungen fast bis zu grafischer Abstraktheit vereinfacht werden. Kühl weisen sie die Erwartung ab, ein interessantes Bild müsse informationsreich sein, solle eine reiche Binnen­zeichnung haben, viele Details und komplexe Strukturen. Man befindet sich statt dessen in einer Welt mit einem extrem hohen Ordnungsgrad. Wenige Bildelemente stehen in klaren, lakonischen Beziehungen zueinander: die Reling eines Schiffes, ein Streifen Meer, ein leerer Himmel; oder ein schrägstehender Schiffsmast und ein Stück einer Flagge vor einem schmalen Streifen Meer und dem wiederum leeren Himmel; und noch einmal der leere Himmel, in den nur in der unteren rechten und linken Bildecke die angeschnittenen Dächer von Wohn- und Bau­stellenwagen hineinragen; und schließlich einfach eine nicht näher zu definierende Fläche oder Wand, die schräg und hellbeleuchtet im Bild steht und seitlich verschoben den Buchstaben K trägt, darüber wieder, sehr dunkel, der leere Himmel. Der besondere Reiz dieser Bilder liegt wahrnehmungspsychologisch darin, daß sie durch ihre Reduktion auf wenige, klar geordnete Elemente unsere Aufmerksamkeit entlasten, was objektiv als Wesentlichkeit erscheint und subjektiv als Konzentration erlebt wird. Die dem Verfahren inne­wohnende Gefahr ist die Langeweile. Doch wird dem vorgebeugt durch die Fremdheit der Sicht. Die Entleerung der Szenerie und die in der Komposition stillgestellten Gegenstände lassen das Bildfeld zur Projektionsfläche werden. Durch die Verringerung der Wahrnehmungsgelegenheiten nehmen die Bilder den Charakter von Vorstellungen an. Am stärksten ist für mich die Wirkung, wenn in der strengen Grafik ein unberechenbares, flüchtiges Element erscheint, wie zum Beispiel der aufglänzende Lichtreflex auf der Reling, die zusammen mit Meer und Himmel eine fast abstrakte dreistufige Struktur bildet, aber an dieser Stelle eine irisierende Lebendigkeit bekommt. […]

Rolf Wedewer (Hrsg.): Vorstellungen und Wirklichkeit 7 Aspekte subjektiver Fotografie. Köln: Wienand Verlag, 1980. ISBN 3-87909-100-5