Wolfgang Hesse

Digitale Partituren (nach Nicéphore Niépce)

Die 8-teilige, 1995 entstandene Arbeit „Digitale Partituren (nach Nicéphore Niépce)“ von Andreas Müller-Pohle ist janusköpfig in den Zeiten verankert, indem sie als alphanumerische Beschreibung (und deren freie Variation als Bild) sich auf eine Inkunabel der Fotografiegeschichte bezieht: die asphaltbeschichtete Zinnplatte, auf der Nicéphore Niépce 1826 den Blick aus dem Arbeitszimmer seines Landsitzes Le Gras bei Chalons-sur-Saône fixiert hatte. Der von Niépce eingeschlagene Weg führte nicht zum erhofften Erfolg, gestochen scharfe Kamerabilder zu erzeugen, wohl aber gingen seine seit 1816 ausgeführten Experimente in die nach seinem Tod gefundene Lösung des Problems ein. In den Fokus der Aufmerksamkeit geraten damit 180 Jahre Mediengeschichte, die fundamentalen Kulturbrüche, die die handwerkliche Darstellungspraxis von der technischen und die analoge von der digitalen Bildwelt trennen.

Doch sind nicht nur deren Eckpunkte den „Digitalen Partituren“ einbeschrieben, sondern die Arbeit enthält als Subtext auch die Überlieferung der Zwischenzeit. Diese ist zunächst eine Geschichte der Wiedergewinnung des ikonischen Objekts, die als aufregend-behagliche Erzählung von Beharrlichkeit und unglaublichem Glück oft kolportiert worden ist. Denn 1952 konnte der Sammler und Fotohistoriker Helmut Gernsheim nach langen Recherchen den eher unscheinbaren Gegenstand in einem Koffer ausfindig machen, der fast 50 Jahre ungeöffnet auf einem Dachboden in England gestanden hatte. Doch gaben Reproduktionen noch weniger an Anschaulichkeit her als das Original. Das seither in jeder Fotogeschichte publizierte Bild (das auch Müller-Pohles Darstellung zugrunde liegt) ist eine Rekonstruktion durch Techniker der Kodak auf dem Reproduktionswege, mit verstärkten Kontrasten und geschärften Linien.

Nach Übernahme der Sammlung Gernsheim durch die Universität von Austin/Texas untersuchte das Getty Conservation Institute in Los Angeles den Zustand des Objekts, erforschte seine Technologie, realisierte die Unterbringung in einer Edelgasatmosphäre und erstellte neue Reproduktionen, die den Augenschein des Bildes wiedergeben – für diesen Katalog übermittelt durch einen Datensatz, der Ausgangspunkt für den Druck der Referenzabbildung geworden ist.

Hatte die Silberbildfotografie Analogien zur Dingwelt hergestellt, so löst die Digitalisierung diese nun auf: Als Bild betrachtet, verschwindet vor unseren Augen das Vorbild in dieser Mathematisierung, die im Blick zurück auf die Fotografie jene Zukunft enthält, von der Andreas Müller-Pohle vor über zehn Jahren schrieb:

„Die Digitalisierung des Bildes kann als das Ende der Fotografie gedeutet werden. Die Fotografie büßt ihre im Analogzustand gepflegte Autonomie und ihre damit verbundenen Privilegien ein. Sie gerät in den digitalen Sog und verliert sich in ihm. Sie vermischt sich zur Unkenntlichkeit mit Partikeln aus anderen Bild- und Sinnesquellen. Oder sie kann als die Vollendung der Fotografie interpretiert werden: Die Fotografie partizipiert an der digitalen Universalität und gewinnt neue, erweiterte Aufgaben. War sie im Zustand der Analogie vornehmlich Referenztechnik und Sehhilfe, so wird sie nun Präferenztechnik und Denkinstrument. Nicht der objektive oder subjektive Aspekt des Bildermachens ist mehr von Bedeutung im digitalen Kontext, sondern der projektive. Was im Zeitalter der analogen Fotografie als Lichtfaden gedeutet werden konnte, ist jetzt ein ins Dunkel gerichteter Strahl, in dessen Puls eine endlose holografische Welt erschwingt: Der Fotoapparat als schwarze Beziehungskiste wird abgelöst vom rechnenden Projektor.“

Andreas Krase/Agnes Matthias (Hrsg.): Wahr-Zeichen. Fotografie und Wissenschaft. Dresden: Technische Sammlungen, Museen der Stadt Dresden, 2006. ISBN 3-9810636-3-5