Hubertus von Amelunxen
Perlasca Pictures
„A toute limite, son point.“ (Edmond Jabès, La mémoire et la main, 1987)
„In jenen Zwischenpausen versteinte sich ihr das Antlitz in Angst: keine Regung der Seele war mehr möglich: vielleicht war sie nicht mehr Mutter, wie im fernen, zerrissenen Schrei des Gebärens: war nicht mehr menschliche Person, sondern Schatten . . . Und das Gewand der Armut und des Alters war wie ein äußerstes Zeichen des Seins, vor die Gesichter der Bilder getragen, wo flüchtige Vogelzüge über der Leere den Bogen zogen ins überlebende Morgen.“
Eine Passage von Carlo Emilio Gadda, entnommen seinem 1963 erschienenen Roman über Die Erkenntnis des Schmerzes, angeeignete Worte, mit denen ich die Fotografien von Andreas Müller-Pohle überschreibe. Es sind tönende Worte erschöpfter Zeit, einer Zeit vorüber, die niemals zum Zuge gekommen zu sein scheint – die gar nicht jemals zum Zuge wird gekommen sein. In den Worten klingt die Grausamkeit der Erinnerung an, die in ihrer Willkür das Grauen mit dem Schönen und das Schöne mit dem Grauen vereint. „Ein strahl . . . dann nacht!“ – eine Begegnung, die weder Gegenwart noch Zukunft, weder Abkehr noch Ankunft kennt – doch alles ist geschehen, doch alles wird geschehen sein. Nicht vergessen, nicht erinnert, aber verinnert, ohne doch eigen zu sein.
Ich denke, daß diese Fotografien uns mit jenem „zerrissenen Schrei des Gebärens“ zu betäuben vermögen, ein Aufbegehren – voller Widersprüche – für ein Leben, gegen den Augenblick des Verschwindens (Sisyphos, der Weiseste unter den Sterblichen, wußte sogar den Tod in Fesseln zu legen und war zur ewigen Wiederholung verdammt). Nichts hält die Fotografie an, in Lichtfransen ist ein Geschehen eingebunden, das uns entzogen ist, das aber auch mit sich selbst nichts mehr gemeinsam hat. Die Melancholie der Fotografie (oder Melanografie, wie Raoul Hausmann es meinte) liegt nun in ihrem ungeheuren Vermögen der Auslöschung; für immer entzieht sie uns, was sie fortwährend uns vor Augen führt. In der Fotografie sind die Dinge unserer Anschauung aus ihrer Darstellung verschwunden, dieses Entsagen (und nicht Versagen) ist dem technischen Gestell der Fotografie von Anbeginn inhärent. Andreas Müller-Pohle betreibt seit Ende der 70er Jahre die fotografische Entstellung mit konzeptueller Stringenz, von den ‚subversiven‘ fotografischen Ver-Wandlungen (Transformance, 1983) des sich blind stellenden Auges (wie Vilém Flusser schrieb) bis zu den Signa (1992), Palimpseste von zur Unkenntlichkeit überschriebenen Wahrzeichen. Blicke werden der Geste des fotografischen Apparates überantwortet, aber still, ohne ein technoides Gehabe, und was in den Bildern verlautbar wird, ist der Atem der verzogenen Gestalten. Einzig im Verschwinden mögen sich die Körper ihrer Präsenz versichern.
Diese Fotografien von Andreas Müller-Pohle sind in einem Film von Nina Gladitz zu sehen, Perlasca (1992), gewidmet jenem aufrichtigen Giorgio Perlasca, der viele Menschen vor den faschistischen Schlächtern in Budapest für eine Zukunft in ihrem Glauben rettete. Andreas Müller-Pohle hat den fotografischen Apparat bewegt, in der Tat, um „dem Augenblick einen posthumen Chock zu verleihen“ (Benjamin), um im fotografischen Akt gestisch in den Raum hineinzuwirken und nicht, um mit einem technischen Kunstgriff Dinge zu einem Geschehen zu dramatisieren, oder um Gesehenes zu verbergen, sondern um Phänomenen ihre Zeit zu nehmen und als Bürde der Erinnerung sie uns aufzulasten (ich weiß, daß dieses Wort Phänomen hier unpassend klingen mag, aber noch sind Menschen mehr Phänomene als Dinge). Weder enthüllen die Bilder, noch verbergen sie etwas, ihnen kommt ein sonderbarer Status zu, der, eigentlich keiner benennbaren Zeit zugehörig, dem eines bewegten Stillstands gleichkäme.
Die Fotografien sind von verzerrten Zügen gesprengt, traumartige Verdoppelungen der Gestalten, Blicke, die im Blinzeln starren, ein Lichtertunnel ‚gegen den Strich‘, eine Uhr, die Lichtbahnen von Zeit weint und Eisenbahnwaggons, die nicht aufhören, uns den Tod zu bringen: Traumbilder an der Schwelle des Erwachens, als wären Raum und Zeit aus den Fugen geraten, als trennte das Licht die Bewegtheit des Lebens von der scheinbaren Ruhe des Raumes. Wir taumeln, unsicher, in welche Zeit uns der nächste Schritt setzen wird, wissend aber, daß die Zeit uns gilt, daß sie nach uns verlangt. Die Bilder fordern das Entsetzen des Betrachters und klagen eine Besinnung ein, die eine vorgestellte Bilderwelt in Differenz zur Lebenswelt betrachten lernt und die diese Differenz auch zur Gestalt des Geschichtsbildes führen kann.
Im Film bilden die Fotografien die „Zwischenpause“, wir halten ein, im Anblick dessen, was wir nicht sehen, was wir auch nicht hätten vermuten können, erscheinen sie uns doch als Bilder der Latenz, die im Gegensatz zu der im Takt beruhigenden, bildschöpfenden Sequenz des Films ihre Entwicklung dem Verschwinden versprechen. So wie das filmische Bild – in konsequent zeitlicher Diachronie – sich im kommenden, dessen Ursprung es gewesen ist, erschöpft, so brechen die Fotografien in die filmische Erzählung ein und setzen als Bild Zeichen der Auslassung (das Französische ist genauer: points de suspension). Als Zäsuren halten sie in der Schwebe, was namenlos sich nach Erlösung sehnt. Die Fotografien sind „vor die Gesichter der Bilder getragen, wo flüchtige Vogelzüge über der Leere den Bogen zogen ins überlebende Morgen.“ Als verborgene Interpunktion des Films setzen sie die Pausen, und mit jedem Aufflimmern des Verschwindens, mit jedem versetzten Moment kehrt eine andere Zeit ein, die das Unfaßbare, das grausame Memento der filmischen Erzählung dauern läßt. Mit Feuer und Eis hat Peter Wollen einmal prägnant das Verhältnis von Film und Fotografie umschrieben, das Eis schmilzt im Feuer, aber einmal geschmolzen, löscht es das Feuer. Andreas Müller-Pohle setzt mit seinen Fotografien Zeichen zwischen den Bildern, er punktiert die filmische Sequenz, macht sie durchlässig, verletzbar und fügt ihr eine andere Zeit hinzu. Die gewöhnliche Gegenüberstellung von Film und Fotografie in einem Verhältnis von Linie und Punkt, der Fortführung und der Arretierung, läßt außer Acht, daß die Linie als eine Markierung der Grenze vom Punkt unterbrochen, ausgefranst und porös werden kann.
Ich höre John Cage, er spricht eine Tagebucheintragung von 1964, Bilder seien nicht mehr Ströme, die von der Quelle über Felsen fließen – er zitiert McLuhan –, die entspringen, um zu münden. Die Töne sollten unmittelbar vom Ohr ins Gehirn gelangen – „direct musical action . . . ears not interposing eyes“, reines Rauschen der Quelle, ohne mögliche Wiederholung. Die Musik ist das „Anti-Gedächtnis“ genannt worden. Vielleicht liegt hier die Affinität der Fotografie zur Musik. Die Perlasca-Bilder – points de suspension – schweigen. In dem Medium Fotografie zeigt Andreas Müller-Pohle anhaltend das Vergessen.
Bilder quellen ohne Grund und ohne Verbindung zu einem Ursprung, als sprachlose Fugen, kontrapunktisch zum Film, werden die Fotografien an die betrachtenden Blicke gerichtet, daß sie die Lichtkratzer und die stürzenden Formen, ihrer eigenen Bewegung in ihrer Geschichte, ihrem eigenen Körper anfügen mögen. Roland Barthes, der an Filmen nur die Einzelbilder, die vorgestellten (lies: herausgestellten) Bilder mochte, hat das, was sich bei bestimmten Filmstills sprachlos unser bemächtigt, den dritten Sinn genannt. Dieser verbleibt namenlos und auf immer der gefälligen Befriedung durch das Signifikat entzogen. Eine stumme Entsprechung findet er in der Sehnsucht, die sich in unsere Blicke mischt, irgendwie doch in die Gunst der Teilhabe am Gesehenen zu kommen, irgend-wie doch aufzubegehren gegen die vollendete Zukunft. Andreas Müller-Pohle hat mit diesen Fotografien unseren Blick belehnt.
Die Serie „Perlasca Pictures“ entstand 1992 in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Nina Gladitz für den Film „Perlasca“ und umfaßt insgesamt 230 Fotografien. Aufnahmeorte waren Berlin, Budapest, Toledo und Madrid.
„Perlasca“: Buch und Regie Nina Gladitz. Produktion Luna-Film GmbH/Gudrun Ruzickova-Steiner und NGF-Filmproduktion in Co-Produktion mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen. 98 Minuten, 35 mm, Color, 1992.
Andreas Müller-Pohle: Perlasca Pictures, Hildesheim: Kunstverein, 1995