Boris von Brauchitsch

Am Anfang war das Nichts

Zu Fotografien und Videos von Andreas Müller-Pohle

Den Blick hinaus in die Welt, aus der Kammer, der Kamera, durch ein Loch, ein Fenster, auf das Dasein draußen, diesen Blick zeigt die Inkunabel der Fotografie schlechthin, die wohl älteste erhaltene Aufnahme aus dem Jahr 1826, über Stunden auf schwach lichtempfindliches Material fixiert durch den Erfinder Joseph Nicéphore Niépce. Ein Unikat ohne Negativ. Ein Werk der Lichtbildkunst vor dem Zeitalter massenhafter technischer Reproduzierbarkeit. Vermutlich wurde dieses kleine, verschwommene Bild seinerzeit als Konkurrenz zu den traditionellen Künsten nicht wirklich ernst genommen, aber bald schon sollte das Geschrei losgehen, die Verteufelung der Fotografie, die Versuche, sie aus dem Kreis der Künste auszuschließen.

Heute hat das Geschrei aufs Neue angehoben, denn die Fotografie, wie wir sie bislang kannten, steht am Ende. Sie ist der digitalen Gleichschaltung zum Opfer gefallen. Der Pool der Computer ersetzt nicht mehr nur das Kino, den Plattenspieler, das Telefon, sondern nun auch das Fotolabor. Für alles liefert er immaterielle Codes, die an sich ewig erscheinen, jedoch gespeichert und gelesen werden müssen durch Apparate, die an den Innovationshunger der Konsumgesellschaft geknüpft sind. Selten waren daher Informationen so sensibel und vergänglich wie heute.

Doch sind es vielleicht nur ein paar Anachronisten, die der Dunkelkammerromantik nachtrauern? Was für einen Schaden trägt die Fotografie durch die Digitalisierung wirklich davon? Die immer schon vorhandene Bereitschaft der Fotografie, sich missbrauchen, sich manipulieren zu lassen, ist zum bestimmenden Wesenszug avanciert. Kaum ein Bild kommt heute ungefiltert und unbearbeitet aus den Laboren und heimischen Printern. Und wo einst in den Familienalben die eigene Geschichte und persönliche Sicht der Welt vor allem durch strenge Selektion der entstandenen Bilder zurechtgebogen wurde, wird sie es heute durch „Bildbearbeitung“.

Was allenfalls bemerkenswert ist, ist das mangelnde Bewusstsein der fotografierenden Massen, die meist ohne jede Sentimentalität im Leichenzug der analogen Fotografie mitmarschierten. Hier setzen Andreas Müller-Pohles Digitale Partituren an, die den Akt der Digitalisierung sichtbar machen, dem neuen Verfahren ein ambivalentes Denkmal setzen und zugleich den Brückenschlag zu den Anfängen der Fotografie wagen. Das, was wir „sehen“, ist die erwähnte Langzeitbelichtung von Niépce, der Ausblick aus seinem Zimmer, verwandelt in den vollständigen alphanumerischen Code einer Tiff-Datei, der, verteilt auf acht Bildtafeln im Format 66 x 66 cm, alles liefert, was für eine Rekonstruktion des Lichtbildes nötig ist. Mit welch hirnlos-absurder Gewissenhaftigkeit die ausufernden Codes sich um das Motiv bemühen, entbehrt dabei nicht einer humoristischen Note. Statt des schemenhaften Bildes aus den hoffnungsvollen Kindertagen der Fotografie sehen wir uns nun präzisen Zeichen gegenüber, doch um sichtbar zu machen, was sie „bedeuten“, müssen wir uns einmal mehr der Computersoftware ausliefern. Die Digitalen Partituren, nach denen kein Pianist, sondern nur eine Rechenmaschine zu spielen vermag, visualisieren mit entwaffnender Unmittelbarkeit das Kernproblem der Digitalisierung als Speerspitze der Konsumgesellschaft: An die Stelle der Erkenntnis ist die Information getreten.

Mit der Diskrepanz zwischen Gedanken und Zeichen, zwischen Gedächtnis und der Niederschrift des Gedachten, lässt Thomas Bernhard exemplarisch den Helden seines Romans Kalkwerk hadern. Die Zeichen ruinierten die Imagination, zögen sie ins Lächerliche, so Bernhard. „Die Wörter sind dazu geschaffen, das Denken zu erniedrigen“, schreibt er, „ja er gehe sogar so weit, zu sagen, die Wörter sind dazu geschaffen, das Denken abzuschaffen, was ihnen einmal hundertprozentig gelingen werde“.1 Wenn alles Reden nur ein Übersetzen von Bildern in Zeichen ist, dann ist es zwangsläufig zur Unvollkommenheit verdammt. Diese Undarstellbarkeit reflektierter Wahrnehmung ist auch ein zentraler Faktor, der sich kontinuierlich durch das Werk von Andreas Müller-Pohle zieht. Bereits in seinen Anfängen Ende der 70er Jahre ist er der radikale Reduktionist in der neuen Generation subjektiver oder – wie er es auch theoretisch formuliert hat – visualistischer Fotografie. Seine Aufnahmen sind Bildverweigerungen, die Gegenstände werden zu Repoussoirs, die den Blick auf das eigentliche Motiv lenken: auf die Leere. Diese frühen Konstellationen sind Abbilder der Abwesenheit, wie auf ihre Weise auch die Polaroid-Serie Signa, bei der die Bilder nicht, wie vom Hersteller gefordert, nach einer Minute, sondern erst Tage oder Wochen später nach Rückkehr von der jeweiligen Reise aus der Emulsion gelöst wurden. Der Entwicklungsprozess ging somit direkt in den Prozess der Zersetzung über, Entstehung und Auslöschung wurden zu einem selbstverständlichen Kontinuum, wie es denkbar, aber kaum in Codes darstellbar ist.

Das Prozesshafte, die Aneignung fremder Motive, die Zerstörung und das Recycling der Bilder, ihre Verwandlung in neue Aggregatszustände und ihre Übersetzung in Codes, beschäftigten Andreas Müller-Pohle bis heute. Und in seiner Auseinandersetzung mit der Darstellung von Zeit und Bewegung steht er in einer Tradition abendländischer Kunst, die spätestens mit Giotto einsetzte und in den Exzessen des Futurismus einen kuriosen, wenn auch vorläufigen Höhepunkt erreichte. Die Erfindung des Films ist hier kein Ausweg, denn er vermag nie die Kraft des statischen Bildes zu entwickeln, die es in die Lage versetzen kann, sich ins Gedächtnis, auch ins kollektive, einzugraben. Dennoch bediente sich Andreas Müller-Pohle des Mediums Video, allerdings nur, um zu einem bewegten Standbild zu gelangen, das seine Entsprechung im (aus den 6000 Frames des Videos) verdichteten Code findet, der am unteren Bildrand wie eine Untertitelung vorbeizieht. Die japanische Tänzerin Yumiko saß im Jahr 2002, nahezu bewegungslos, für den Zeitraum von vier Minuten Modell. Ihre gesamte Aktion liegt einzig im wiederholten kurzen Schließen ihrer Augen, der eine Beschleunigung der Bewegung des Codes entspricht. Die enigmatische Abhängigkeit zwischen Bild und Zeichen wird im gewohnten Minimalismus Müller-Pohles augenscheinlich. Das Video wirkt (vielleicht noch unterstützt durch die asiatischen Züge des Modells) wie eine meditative Versenkung, in deren Verlauf vordergründige Logik und Zwangsläufigkeiten außer Kraft gesetzt werden. Ist es wirklich das Modell, fragt man sich, das durch seinen Augenaufschlag die Codes beschleunigt, oder sind es möglicherweise die Codes, die durch ihre Beschleunigung den Reflex auslösen?

Inwieweit haben die Zeichen die Kontrolle übernommen, inwieweit sind die Codes in der Lage, unsere Realität zu normieren? Dieser Frage ging Andreas Müller-Pohle bereits 1998 nach, als er in Kyoto und Tokio eine Serie von Face Codes aufnahm. Passanten wurden per Video porträtiert und jeweils ein Frame der Aufnahmen nachträglich geglättet und einheitlich ausgerichtet. Die digitalen Bildinformationen dieser schematisierten Porträts erscheinen in Auszügen – und übertragen in japanische Kanji – am unteren Bildrand. Für den Japaner nicht entschlüsselbar und für die restliche Weltbevölkerung in der Regel nicht einmal lesbar, kreieren sie ein Bild, das so in der Realität zu keinem Zeitpunkt existiert hat. Die täglich wachsende Zahl geheimnisvoller Daten, die unsere Kommunikation ermöglichen, lässt uns zunehmend im Dunkeln tappen.

Die Blindenschrift Louis Brailles – in der Blind Genes-Serie Müller-Pohles für die Mehrheit der Sehenden unentzifferbar und für die Blinden nicht ertastbar –kommt in ihrer Reduktion auf maximal sechs Punkte pro Zeichen dem Minimalismus des Fotografen entgegen. Das Lineare üblicher Schrift wird ersetzt durch die nullte Dimension, den Punkt, den Pixel, der zumindest in Dimensionen geometrischer Vorstellung keinerlei Ausdehnung mehr besitzt. Das was wir hier sehen, ist die Beschreibung der Blindheit, es sind Datenfragmente aus der Internet-GenBank zum Stichwort „blindness“. Orientierungslos suchen wir nach Vorstellungen, deren Modellcharakter uns sofort wieder in die Irre leiten kann und selbst die Sehenden in letzter Konsequenz zu Blinden macht. Da sich das Gedächtnis der Blinden jedoch in ihren Fingerspitzen befindet, „in der Oberfläche ihrer Haut“, wie Hervé Guibert bemerkte, „waren ihre Köpfe manchmal leere Gefäße ohne jeden Traum, ohne jedes Vorhaben. Dann mussten sie sich davon überzeugen, dass sie existierten und einen Platz und bestimmte Ausmaße in dieser Welt einnahmen.“2

Wie wichtig ist es da, dass man sich Vorstellungen machen kann und Bilder da sind, die ein Erkennen noch möglich machen. Immer wieder kann es jedoch vorkommen, dass nicht das Bild, sondern das Medium die Botschaft ist. Diese Kernaussage im Werk Andreas Müller-Pohles wird in Sojourner II (1997/99) mit dem Humor des Absurden eindrucksvoll vor Augen geführt. Statt auf den Mars reiste er nach Marsdorf in der äußersten Peripherie Dresdens, um dort mit der Videokamera, die er auf einem ferngesteuerten Modellauto befestigte, die Ästhetik der Marsbilder in kurzen Bildsequenzen wiederzuentdecken, wobei nicht er die Anwohner, sondern die Anwohner ihn als Außerirdischen wahrnahmen. Gerade in der Banalität der unspezifischen Bilder liegt das Spektakuläre. Es ist die Art der Bilderzeugung, die geradezu zur Persiflage einlädt und uns in diesen Aufnahmen auf die Reise zum geheimnisvollen fremden Planeten schickt. Aber es bedarf gar nicht notwendigerweise diffuser Impressionen, auch konkrete Bilder mit präzisen Orts- und Datumsangaben vermögen unsere Assoziationen auf falsche Fährten zu locken.

Hiroshima 29/3/01. Zu sehen ist der sogenannte A-Bomb Dome, dessen Ruine zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Die Filmaufnahme des Gebäudes erfolgte, wie der Titel garantiert, am 29. März 2001, und doch gewinnt man den Eindruck eines zeithistorischen Dokuments, suggeriert durch das altertümliche Filmmaterial der Super 8-Kamera, obwohl die begleitende Tonaufzeichnung uns akustisch eine moderne Metropole vergegenwärtigt.

Begleitet wurde der Abwurf der Atombombe am 6. August 1945 durch das, was Andreas Müller-Pohle als ein atomares Gelächter betitelte, die Bekanntgabe der Bombardierung durch Harry Truman. Wenige Sekunden bevor er auf Sendung ging, lachte er noch über einen Scherz, um dann das „angemessene Gesicht“ wiederzufinden. Das Atomic Laughter klang jedoch auch nach der physiognomischen Rückkehr zur Ernsthaftigkeit noch in den Worten des amerikanischen Präsidenten nach: „We spent more than two billion dollars on the greatest scientific gamble in history. And we have won.” Truman selbst, so legt es diese Formulierung nahe, betrachtete sich als obersten Glücksspieler, der auf Risiko gesetzt und nun gewonnen hatte.

Und doch ist das Werk Andreas Müller-Pohles keineswegs nur ein Diskurs über die Ironie der Geschichte und der Technik, über die Funktion der Codes und die Auslöschung. So konnte er die Verbindung von Schrift und Bild und das Bewusstsein von der Macht der Zeichen auch bei seinem River Project nutzen. Begonnen mit dem europäischen Strom schlechthin, der durch zehn Länder fließenden Donau, hat Müller-Pohle aus der Perspektive des Flusses halb über, halb unter Wasser markante Stationen des Laufs zwischen Schwarzwald und Schwarzem Meer festgehalten. Entstanden ist eine atmosphärische, aber auch historische und ökologische Arbeit, denn, akustisch untermalt durch den Unterwasser-Sound am Nullkilometer bei Sulina in Rumänien, präsentieren die Fotografien, die in Ulm, Passau, Linz, Wien, Bratislava, Belgrad, Rousse und zahlreichen weiteren Orten entstanden sind, nicht nur Ansichten von Städten und Landschaften, sondern auch die Ergebnisse der jeweils genommenen Wasserproben. Neben die Vergegenwärtigung des Flusses als Lebensader von Zivilisation und Kultur tritt so die Wahrnehmung des labilen ökologischen Systems, das stellvertretend für die Umwälzung und das Recycling der Natur steht, aber längst an die Grenzen seiner selbstreinigenden Kräfte gestoßen ist.

Viele Fotografen in der Geschichte des Mediums haben sich, wohl auch forciert durch die Anfeindungen seitens des traditionellen Kunstbetriebs, theoretisch in Reflexionen, ja gelegentlich auch durch Rechtfertigungen, mit ihrem Tun befasst. Meist ist dabei nur ein Reden über Fotografie herausgekommen, eine Auseinandersetzung auf einer separaten Ebene. Andreas Müller-Pohle hat Bild und Theorie nie trennen wollen, er begreift Kunst als selbstverständliche Möglichkeit der Kulturphilosophie und gestaltet seine Bilder als ästhetische, visuelle Diskurse, als starke und präzise Hypothesen. Nicht in Manifesten und programmatischen Aufrufen, sondern in Fotografien und Videos macht er die zentralen Überlegungen zur Funktion visueller Kommunikation anschaulich. So entstehen Bilder vom Nachdenken über Bilder, voll von Eleganz und intellektueller Ehrlichkeit, wie es Vilém Flusser formuliert hat.3 Dabei widersteht er der Versuchung massenhafter Produktion, pflegt quantitativ die Beschränkung auf das Notwendigste und scheint der Ästhetik von Destruktion (als Vorbedingung jeder Konstruktion) tröstliche Aspekte abgewinnen zu können.

Die Klagen über eine Bilderflut – wahlweise auch Bilderinflation – sind längst zum Allgemeingut geworden und werden allerorten und stetig aufs Neue konstatiert. Da ist der Gedanke an Recycling angenehm, an eine finale Informationsverwertung, an das Freisetzen von Energie aus dem Material der Bilder. Was Andreas Müller-Pohle in seiner Videoarbeit Entropia (1996) zelebrierte, ist eine lakonische und zugleich fesselnde Antwort auf die entfesselte Produktion. Quasi als Gegenstück zum blinden Computer, der wahllos Bilder erfasst und speichert, erfasst das ebenso blinde Räderwerk unterschiedslos und unerbittlich alles, um es zu vernichten. Diese Maschine ist ein Bild der Zeit, die alles zermalmen wird. Eiserne Zähne, die unterschiedslos jeden Gegenstand und jeden Körper in den Abgrund ziehen – ein moderner Triumph des Todes: Die fröhliche Gesellschaft spielt noch zum Tanz auf, während der Sensenmann schon hinter ihr steht. Entropia wird zur Elegie auf das Verschwinden, und wir stehen gebannt von seiner Sogwirkung vor dem Tanz der Dinge auf dem Vulkan. Wie sollte man sich dabei des Gedankens erwehren können, wie wohltuend das Nichts doch sein kann.

Anmerkungen

1 Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1999, S. 115

2 Hervé Guibert: Blinde. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1986, S. 45

3 Vilém Flusser: Prospektive. In: Andreas Müller-Pohle: Was ich nicht sehe, fotografiere ich. Was ich nicht fotografiere, sehe ich. Cottbus: Brandenburgische Kunstsammlungen, 1991

Einführungsvortrag zur Ausstellung “Andreas Müller-Pohle. Foto/Video/Sound. Arbeiten 1995–2006” in der Städtischen Galerie Erlangen, 13. April 2007. Überarbeiteter Text