Hubertus von Amelunxen
flow, flow – Andreas Müller-Pohle
Dem Braunschweiger/Berliner eine Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung flow, flow in der Galerie Photo Edition Berlin am 8. Dezember 2011
Diese Sätze habe ich gefunden: „Die Dinge verschwinden hinter ihrer Darstellung. Andreas Müller-Pohle führt den Rhythmus, in dem die Dinge unter der Oberfläche abtauchen, zur Darstellung einer Tonalität, die irgendwann noch als das Rauschen der Entropie oder die stimmhafte Verlesung berechnender Codes vernehmbar ist. Ob Oberflächen ikonografisch eingerissen werden, die Bewegung des Fotoapparates die Dinge in eine Lichtströmung mittreißt, die jeden Fleck einer Emulsion mit Signifikanz benetzt, oder ob die Bilder auseinandergerissen und zu neuen Zeitschnitten zusammengefügt werden – Andreas Müller-Pohle denkt einen konsequenten Weg, der seine Arbeiten von Konfigurationen zu Defigurationen führt.“ Es ist nun ungefähr dreizehn Jahre her, dass ich diese Sätze schrieb und die Arbeiten von den 70er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, 1999, meinte, von der Beseelung des Blickes durch die Geschichte, durch die sogenannte Avantgarde, zu den Zitaten der 70er und 80er bis zu den Bildmaschinerien der Zyklogramme, der Entropia und der Digitalen Partituren und den Face Codes der Endneunziger Jahre. Müller-Pohle ist es nicht um das vollendete Bild gegangen, den Augenblick, Kairos oder die Ikone, obgleich Auge und Apparat ihm die Welt sicherlich für ein solches Bild gefügig gemacht hätten.
Seine Arbeiten – und könnten wir wirklich die Bilder hier hören, würden Sie gewiss einstimmen –, seine Fotografien und Videoarbeiten sind tonale Gefüge, die sich eher in den Rhythmus von Welt und Bild stellten als dass sie abbilden wollten. Die Musikalität des Dazwischen, des Zwischenraums und der scheinbaren Transparenz, wie sie in dem Donau-Projekt oder den Hong Kong Waters zu sehen und zu hören ist, diese Tonalität, somit auch diese Unsichtbarkeit, die den Blicken wohl verborgene Gestalt, das den Ohren aber vernehmbare Nachhallen findet sich schon in den Arbeiten aus den 90er Jahren, den Zyklogrammen, programmatisch gefertigt aus ausgewaschenen Bilderschnitzeln, wie auch den Digitalen Partituren, den Übersetzungen eines Bildes in den alphanumerischen Code des wahrscheinlich ersten fotografischen Bildes überhaupt – von Nicéphore Niépce in St. Loup de Varennes aus dem Jahr 1826. Die Digitalen Partituren sind doch wie die Klangfiguren Chladnis, das Eintanzen der Zeichen zu einem unmittelbaren Bild des Klangs.
Müller-Pohle ist bereits sehr früh als Übersetzer und als Modulator unterwegs gewesen und gehörte zu den ersten Künstlern, die sich ernsthaft mit der erneuten Mathematisierbarkeit der Welt befassten. Sinnhafter und konsequenter hätte es wohl kaum kommen können, und wäre nicht seit Charles Babbage (ein Zeitgenosse William Henry Fox Talbots) der Code schon auf gutem Wege gewesen, Andreas Müller-Pohle hätte ihn gewiss erfunden, um zur Zerlegung des Bildhaften zu gelangen, von der Oberfläche zur Oberfläche über die Tiefe des Rauschens. Es wird niemandem schwerfallen, von den Zyklogrammen, den Partituren zu den Wasser-Projekten zu gelangen und eben den Zwischenraum als den eigentlichen Raum des Sichtbar-Unsichtbaren zu gewahren oder, mit Merleau-Ponty gesprochen, sich der Nicht-Sichtbarkeit in der Sichtbarkeit anzunähern, „diese Falte, diese zentrale Höhlung im Sichtbaren, die mein Sehen ausmacht.“ In allen seinen Arbeiten wird reflektiert, was ich ein Sehen im Abgang nennen möchte, oder eindrücklicher noch: ein Versehen. Das will ich erklären. Der französische Phänomenologe Merleau-Ponty sprach von der „Information“ als einer Einkörperung des Gesehenen, wodurch unser Sehen, wie durch die Perspektive, ein anderes wird, sich also informiert, doch unmerklich verändert. Das Versehen aber ist eine Störung im Weltbezug und damit ein Widerstehen einer verordneten, mit der Renaissance perspektivisch buchstabierten Wahrnehmung, das Versehen gehört der Ordnung der „wilden Wahrnehmung“ an: „… die Wahrnehmung selbst ist polymorph, und wenn sie euklidisch wird, so deshalb, weil sie sich auf ein System ausrichten lässt“. Sagen wir, das Versehen ist eine „perzeptive Offenheit“ oder, nochmals mit Merleau-Ponty gesagt, das Versehen ist „eine Perzeption als Imperzeption, Evidenz der Nicht-Inbesitznahme.“ Ob das Video der japanischen Tänzerin Yumiko, die Serie Atomic Laughter mit dem Präsidenten Truman kurz vor dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, das Video Hiroshima am 29.3.2001 oder aber das nun erstmals edierte Video Araki at Work von 1996 – Müller-Pohle geht behutsam mit der Perzeption um, die Bilder sind gleichsam mit Achtung vor dem Geschehen versehen. Er folgt Araki bei der Entkleidung seines Modells, um mit der Kamera den Blick von Arakis Kamera zu verstellen, um Blicke zu bergen und die zur Schau gestellten zu verbergen.
flow, flow heißt die Ausstellung, und irregeführt möchte man meinen, hier sei die Zeit am Werk, und das Wasser wird symbolisch zum Panta rhei Heraklits, alles ist im Fluss, und bekanntlich setzt man den Fuß nicht zwei Mal ins selbe Wasser. Ob 2000 Kilometer vertikal oder horizontal entlang der Donau oder quer durch die Hong Kong Waters, alles im Fluss? Nein, Müller-Pohles Fluss, Müller-Pohles Zeit, ob fotografisch oder videografisch, ist kein linear fließender, ist keine lineare Zeit. Er begann sein Werk, als Jean-François Lyotard das Ende der großen Narrationen in der Condition postmoderne ausrief, das Ende auch der Teleologien, Müller-Pohle ist in die Programme gegangen, mit Vilém Flusser gesprochen, in die Computabilitäten der Bilder und der Welt, und die Zeit seiner Bilder ist keine teleologische, sie ist eine topologische, und darin liegt die große Konsequenz seines Werks und macht ihn sowohl zum Zeitgenossen eines Talbot oder Babbage wie eines Flusser oder Hawking. Die Zeit der Fotografie, mit ihrer Erfindung, ist eine Ortszeit, eines Zeit des Ortes, als Einbruch in das zeitliche Kontinuum setzt sie Zeit aus, ja, aber wendet sie ins Zyklische, wendet sie zum Zyklogramm.
© Prof. Dr. Hubertus v. Amelunxen
Präsident der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK)