Vilém Flusser

Ansichtskarten

Es gibt Sehenswürdigkeiten. Das sind Sachen und Sachverhalte, die nach Ansicht einiger Reiseführer (und Führer überhaupt) würdig sind, gesehen zu werden. Alles übrige ist laut dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten nicht wert, auch nur mit dem Blick gestreift zu werden. „X ist entweder sehenswürdig oder nicht, und es gibt kein Drittes.“ Die Würde der Sachen in Funktion des Angesehenwerdens (das „Ansehen“ der Sachen) läßt sich quantifizieren. Der Eiffelturm zum Beispiel ist ansehnlicher als eine bulgarische Bauerntracht und diese ansehnlicher als eine Fernsehantenne. Die Quantifizierung kann in Sternen kodifiziert werden: Eiffelturm = 3 Sterne, Fernsehantenne = 0 Sterne. Diese etwas grobe Skala läßt sich verfeinern. Vom Eiffelturm läßt sich zum Beispiel neben den drei Sternen sagen, er sei eine Reise wert, und von Neapel, man dürfe nicht sterben, ohne es vorher angesehen zu haben.

Diese Ansicht der Führer betreffs der Ansehnlichkeit von Sachen und Sachverhalten schlägt sich auf Karten nieder. Sie heißen Ansichtskarten. Der Führer hat in seiner Wiener Jugend solche verfertigt. Ob der Duce ebenso frühreif war, steht offen. Ansichtskarten unterscheiden sich von anderen Landkarten vor allem durch die Tatsache, daß sie Abbilder sind. Eine Straßenkarte von Avignon kann ebenso werten wie eine Ansichtskarte: Das Papstpalais kann in der Straßenkarte mit drei Sternen versehen werden. Aber der Führer hatte recht, Ansichtskarten und nicht Straßenkarten herzustellen: Abbilder sind verführerischer als Gedankenbilder, weil sie (im Unterschied zu Straßenkarten) ihre Empfänger auch ohne intellektuelle Bemühung orientieren.

Daher ist angebracht, in einen Papier- oder Tabakladen zu gehen, ohne vorher rechts und links zu schauen, wenn man in eine fremde Stadt kommt. Im Laden kann man Ansichtskarten kaufen, und hätte man sich vorher umgeschaut, dann wäre man Gefahr gelaufen, Unwürdiges zu sehen. Mephisto meint im Faust zum Schüler, er solle sich an Worte halten, um zum Tempel der Gewißheit zu gelangen. Das war vor der Erfindung der Fotos und der Ansichtskarten. Heute kann man im Tabakladen eine Ansichtskarte dieses Tempels erstehen, und alle Worte sind überflüssig, wenn nicht gar schädlich, weil desorientierend. Denn falls im Laden keine Ansichtskarte dieses Tempels erhältlich sein sollte, dann eben, weil er nicht würdig ist, angesehen zu werden. Das ist das Führerprinzip: Alle Ansichten aller Leute in bezug auf die Würde aller Sachen und Sachverhalte sind auf Ansichtskarten ersichtlich.

Das mag die innere Erklärung für den Titel Dacapo sein, den Andreas Müller-Pohle seiner Ansichtskartenreihe verliehen hat. Selbstredend: „da capo“ meint im Musikalischen „noch einmal von Anfang an“, und das tut ja Müller-Pohle mit der Ansichtskarte: Er fängt dort an, wo sie angefangen hat, nämlich bei der Ansicht, nur sieht er sich nicht Sachen an, sondern Ansichtskarten. Aber „da capo“ meint ja auch „vom Kopf her, vom Führer“ (siehe den KZ-Kapo). Die Serie fängt beim Kopf des Ansichtskartenprinzips an, und sie ist darauf aus, die Ansichtskarte zu köpfen. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Guillotine:

Auf dem Gipfel des Corcovado in Rio steht die riesige Statue des Cristo Redentor (des Heilands). Sie breitet ihre Arme über die Bucht von Guanabara, um die umschlungenen Millionen dort unten zum Heil hinzuführen. (Wie weit dies der Statue und dem von ihr Dargestellten gelingt, ist eine andere Frage.) Die Statue ist sehr sehenswürdig (hat drei Sterne), und es gibt von ihr überall Ansichtskarten. Daher muß, wer nach Rio kommt, die Ansichtskarte gar nicht mehr kaufen: Seine Ansicht auf Rio ist bereits geformt. Er fährt auf den Gipfel zur Statue, um sich mit eigenen Augen von der Richtigkeit dieser Ansichtskartenansicht zu überzeugen. Was er dort sieht, ist zwar keine Ansicht, sondern eine Aussicht, aber diese Aussicht ist auf anderen Ansichtskarten zu Ansicht umcodiert worden. Also steht alles zum Besten mit dem Heil und mit Rio, und es ist gar nicht nötig, hinzufahren.

Andreas Müller-Pohle stellt ein Bild her, das Cristo Redentor heißt. Es ist das Foto einer der oben erwähnten Ansichtskarten, nur ist es 120 x 160 cm groß, Silbergelatine auf PE-Papier, und es „manipuliert“ die Ansichtskarte. Damit stellt es diese Ansichtskarte (und alle übrigen) auf verschiedene Methoden in Frage. Es wäre banal, zu sagen, das Foto sei eine Meta-Ansichtskarte: es sei die Ansicht Müller-Pohles betreffs der in der Ansichtskarte angebotenen Ansicht. Viel interessanter ist, daß das Foto vom Empfänger verlangt, sich den Kopf zu zerbrechen. Das Bild stellt seinen Empfänger vor die Fragen, was es bedeutet, wie es gemacht wurde und warum es gemacht wurde. Das sind dem Führerprinzip widersprechende Fragen. Und wenn dem Empfänger zu dämmern beginnt, daß das Foto eine Ansichtskarte bedeutet, dann richten sich alle diese Fragen gegen die im Bild bedeutete Ansichtskarte. Das Führerprinzip gerät ins Wanken: da capo.

Man kann diesem Foto gegenüber gar nicht radikal genug sein. Köpfe rollen. Zuerst wohl muß man seine Ansicht auf Ansichtskarten revidieren. Und dann seine Ansicht auf Rio. Und dann auf die Statue auf dem Corcovado und auf das Motiv, das zum Errichten der Statue geführt hat. In einer anderen Richtung seine Ansicht auf das Fotografieren. In noch anderer Richtung seine Ansicht auf Ansichtsbildung (Meinungsforschung). Und vielleicht letzterdings sogar seine Ansicht auf das Heil, das der Heiland meint, den die Statue meint, die die Ansichtskarte meint, die das Foto Müller-Pohles meint, das Müller-Pohle meint, wenn er sich entschließt, es Dacapo zu nennen. Kurz: Genau besehen, bringt dieses Foto alle Ansichten, die auf Autorität beruhen, ins Wanken, und man weiß nicht, wo das endet. Vielleicht sogar in der außerordentlich peinlichen Lage, in der man gezwungen wäre, sich eigene Ansichten zu bilden (die man dann allerdings auf Ansichtskarten wieder „da capo al fine“ abbilden könnte). Aber schließlich ist die Frage, ob man eigenständig gebildete Ansichten abbilden soll (ob man sich etwas darauf einbilden soll), nur Ansichtssache. 

Standpunkte. Texte zur Fotografie. Göttingen: European Photography, 1998. ISBN 3-923283-49-0. Geschrieben im März 1990