Vilém Flusser

Prospektive

Ausstellungen wollen angeschaut werden. Damit die Öffentlichkeit ersehe, was vom Aussteller im Privatraum angestellt wurde. Wobei allerdings nicht gesagt ist, daß das Ersehene und Angeschaute auch eingesehen wird, und deshalb macht man Ausstellungskataloge. Sie sollen die Einsicht ins Ausgestellte erleichtern. Aber das ist ein zwiespältiges Unternehmen: Kataloge bieten keine Einsicht, sondern nur die Ansichten jener, die sie verfassen. Das will im Fall aller Ausstellungskataloge überhaupt, aber insbesondere im Fall dieses hier vorliegenden gesagt sein.

Der hier vorliegende Fall ist aus verschiedenen Gründen ein besonderer. Erstens sind die hier ausgestellten Bilder tatsächlich nicht bequem einzusehen: Ihr Erzeuger hat bei ihrer Erzeugung nachgedacht (eine immer seltener werdende Einstellung beim Fotografieren), und er verlangt vom Betrachter, diese Denkarbeit nachzuvollziehen (was einer Zumutung gleichkommt). Zweitens ist der Schreiber dieses Katalogbeitrags mit dem Ersteller der Bilder durch zahlreiche Fäden verbunden, so daß seine Ansicht auf die Bilder zugleich intimer und voreingenommener ist, als dies gewöhnlich der Fall ist. Drittens beschäftigt sich ein Teil der ausgestellten Bilder (nämlich jener mit dem Titel Dacapo) genau mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Ansicht und Einsicht. Und viertens geht es bei dieser Ausstellung um eine Rückschau, was die Richtung des Schauens auf die Bilder irgendwie vorschreibt. Von diesem Viertens soll hier ausgegangen werden.

Andreas Müller-Pohle unternimmt den Versuch, seine bisherige fotografische Tätigkeit zu überblicken und diesen Überblick auszustellen. Er glaubt demnach, aus seiner eigenen Haut kriechen zu können, auf sich selbst von oben zurückschauen zu können, und dann das so Ersehene gleichsam fotografieren und dieses Foto ausstellen zu können. Das ist selbstredend unmöglich: So eine Meta-Fotografie ist noch nicht erfunden worden. Was wir tatsächlich sehen, ist viel interessanter als die eigentliche Bedeutung des Wortes “Retrospektive”. Wir werden hier nämlich zu Versuchskaninchen. Andreas Müller-Pohle ist an einem Punkt in seiner Tätigkeit angelangt, von dem ab er sich gezwungen sieht, die Richtung zu ändern. (In anderen Kontexten heißt so ein Punkt “Katastrophe”.) Um diese Wendung zu vollführen, muß er den bisher durchlaufenen Weg kritisch überprüfen. Und um sich selbst diese Kritik zu erleichtern, zeigt er uns, was er bisher getan hat: Er will an unserer Reaktion darauf seine eigene Aktion überprüfen. Das Wort “Retrospektive” ist hier nur ein Vorwand: In Wirklichkeit ist unsere Reaktion auf die Ausstellung eine Prospektive für Andreas Müller-Pohles künftige Arbeit. Er schaut gar nicht zurück, sondern vorwärts, und dazu verwendet er uns als Rückspiegel. Wir nehmen diese uns zugewiesene Rolle gerne auf uns, weil sie verspricht, Überraschungen für uns und für den Aussteller selbst zu bringen. Und hier die erste Überraschung: Wir können anders schauen als uns vorgeschrieben wurde.

Die Rückschau unterscheidet zwischen sechs Etappen auf dem Weg des noch zu leistenden Fotografierens: (1) Konstellationen, (2) Transformance, (3) Albufera, (4) Dacapo, (5) Signa und (6) Zyklogramme. Und diesen Titeln sind Jahreszahlen zugeordnet, um eine chronologische Folge anzugeben. Die Kriterien dieser Aufteilung der Bilder zu zeitlich aufeinanderfolgenden Gruppen sind technisch: Zu jeder der angegebenen Zeiten hat der Bildermacher anders fotografiert als vorher und nachher. Aber wir sollten uns nicht allzusehr von dieser Katalogisierung der Bilder beeindrucken lassen. Die ausgestellten Bilder haben alle einen gemeinsamen und von der Aufteilung zu Gruppen unabhängigen Charakter. Einen Charakter, der sichtlich kaum etwas mit der Technik zu tun hat, nach welcher sie hergestellt wurden. Die erste Überraschung ist demnach diese: Der Bildermacher will uns und sich selbst glauben lassen, das Problem seiner künftigen Arbeit sei technisch. Aber dem kritischen Blick, der über die angegebenen Kategorien hinaus und durch sie hindurch schaut, zeigt sich das Problem anders.

Zur Frage steht: Was ist es, das allen diesen Bildern gemeinsam ist, selbst wenn sie nach ganz unterschiedlichen Methoden hergestellt wurden? Hier ein Versuch, dies in Worte zu fassen: Eleganz und intellektuelle Ehrlichkeit und Strenge. Das ist eine gewagte Behauptung, nämlich daß hinter der Technik und durch sie hindurch eine Absicht wirkt, die sich im Produkt, im Bild spiegelt. Die Behauptung stützt sich auf Husserls Begriff der “reinen Intentionalität”, wonach die konkrete Wirklichkeit nicht im Objekt, sondern in der Absicht ist, das Objekt zu fassen. Sollte die gewagte Behauptung zutreffen (und jeder Beobachter der ausgestellten Bilder kann und muß sie selbst überprüfen), dann wäre man dem hier gestellten Problem näher gekommen. Etwa so: Andreas Müller-Pohle macht Bilder, um strenge und ehrliche Gedanken elegant ins Bild zu setzen, etwa wie andere Leute Texte oder musikalische Kompositionen oder Gebäude machen. Für ihn ist das Bildermachen die Methode, um unartikulierte, aber exakte Gedanken elegant auszudrücken, und die Technik des Bildermachens und das Bild selbst sind Widerstände, die im Verlauf des Artikulierens überwunden sein wollen. Er kämpft gegen die Kamera, die fotografische Technik und das Foto im gleichen Sinn, in welchem ein Schriftsteller gegen die Sprache, die Schrift und den Text kämpft und ein Komponist gegen die Töne, die musikalische Struktur und die Partitur, und das ist es, warum sein Interesse von technischen Fragen absorbiert wird. Er will uns glauben lassen, daß er im Technischen die Lösung sucht, während die ausgestellten Bilder zeigen, daß das technische Problem sekundär ist.

Primär ist, was eigentlich ausdrücken, und dann erst, wie es ausdrücken. Wer die Bilder ansieht, sieht die Antwort: Es gilt, jenes bisher unartikulierte Klima auszudrücken, in welchem wir uns nach dem Paradigmawechsel befinden. Jenes Klima, für welches die Welt nicht mehr aus Gegenständen besteht, sondern aus Sachverhalten, worin die Zeit nicht mehr in die Zukunft deutet, sondern von der Zukunft herkommt, und worin das Leben nicht mehr ein Fortschreiten ist, sondern ein Kreisen. Die hier ausgestellten Bilder sind, ebenso wie einige philosophische Essays oder Gedichte oder Filme oder numerisch generierte musikalische Kompositionen oder Computerbilder, allererste Versuche, dieser heranbrechenden existentiellen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Wer diese Bilder sieht, gewinnt einen ersten Einblick in die Welt, in der unsere Kinder und Enkel leben werden.

Das ist das Primäre, und dann kommt sofort das Sekundäre. Und zuerst die Frage: warum Bilder, und wenn, warum gerade fotografische Bilder? Und hier kommt die zweite Überraschung: weil Bilder am wenigsten geeignet sind, dieses neue Klima zum Ausdruck zu bringen. Die alten, traditionellen Bilder (seit der Renaissance und darüber hinaus bis in die graue Vergangenheit) zeigen die objektive Welt aus einem Abstand. Und Fotografien sind scheinbar noch “objektiver” als traditionelle Bilder. Wenn es gilt, so eine objektive Weltanschauung zu überwinden und dem neuen Lebensgefühl der virtuellen Vernetzung Ausdruck zu verleihen, dann sollte man vermeiden, Bilder zu machen und statt dessen Mathematik betreiben oder elektronische Musik oder vielleicht die Sprache manipulieren. Andreas Müller-Pohle macht Bilder, und zwar Fotos, gerade weil sie sich weigern, reine Relationen und nicht vorgestellte Gegenstände zu zeigen. Er macht Fotos, gerade weil sie von ihm verlangen, ihren Widerstand zu brechen. Es freut ihn, die Fotos zu zwingen, etwas zu machen, wozu sie nicht geeignet sind und sich dabei den Kopf (und vielleicht die Zähne) zu zerbrechen.

Das eben Gesagte ist für alle sogenannten “schöpferischen Leute” charakteristisch: Sie suchen sich ein Objekt aus, das sich weigert, denn erst im Widerstand kommt die Absicht zum Ausdruck. Das meint ja das Wort “Beruf” und “Berufung”: daß von einem Widerstand ein Ruf ausgeht, welcher verlangt, den Widerstand zu besiegen. Ein Dichter ist ein Mensch, der den Ruf der Sprache vernimmt, der da verlangt, die Sprache möge vergewaltigt werden. Andreas Müller-Pohle ist Bildermacher aus Beruf: Er hat den aus der Kamera und dem Fotouniversum herkommenden Ruf vernommen, daß das so nicht weitergeht und daß es notwendig ist, den ganzen fotografischen Kontext zu vergewaltigen, um dem Neuen durch diesen Widerstand hindurch Ausdruck zu verleihen, um das Neue zu Bild kommen zu lassen. Daher ist es nicht ganz richtig, zu sagen, man suche sich “sein” Objekt aus. Richtiger ist: Man vernimmt einen Ruf als Herausforderung und entschließt sich, ihr die Stirn zu bieten. Die hier gezeigten Bilder sind so, wie Andreas Müller-Pohle versucht hat, der Herausforderung durch das Fotouniversum die Stirn zu bieten, und wie er im Kampf gegen diese Widerlichkeit die neue Lebensstimmung ins Bild gesetzt hat.

Dann allerdings, nach diesem Primären und Sekundären, kommt die Frage nach der Technik. Welche Strategie soll ich anwenden, um das widerliche Fotouniversum zu zwingen, etwas zu machen, das es nicht tun will? Die sechs hier ausgestellten Etappen sind die vorläufigen Antworten auf diese Frage: (1) Ich richte meinen Blick auf Sachverhalte, nicht Sachen, (2) ich fotografiere ohne hinzuschauen, (3) ich mache Risse in die Negative, (4) ich vergewaltige Fotos anderer, (5) ich lasse Polaroidfotos sich selbst zersetzen, (6) ich rezykliere Fotoabfälle. Das sind für Andreas Müller-Pohle geradezu lebenswichtige Fragen. Denn wenn er auf seine Arbeit zurückschaut, dann sieht er nichts als derartige Manipulationen. Und er erwartet daher von dieser Ausstellung, daß die Leute, welche die Bilder anschauen, ihm zu neuer Einsicht in diese Techniken verhelfen. Und das ist wahrscheinlich die größte Überraschung: daß die Leute diese Techniken gar nicht wahrnehmen (sofern sie nicht selbst Fotografen sind), sondern eben die Absicht hinter den Bildern.

Man könnte meinen, das eben sei das Ziel dessen, was einst “Kunst” genannt wurde: die Technik unsichtbar werden zu lassen. “L’art cache l’art”, und was man sieht, ist nicht der Prozeß, sondern das Resultat des Prozesses. Man könnte meinen, daß, wenn die Leute in den Bildern der Gruppe Konstellationen das gleiche Erlebnismodell empfangen wie in den Bildern der Gruppe Zyklogramme, nämlich ein Modell zum Erleben der neu emporkommenden Weltanschauung, daß dann das Ziel, das sich Andreas Müller-Pohle gesetzt hat, erreicht ist. Aber so kann er die Sache eben nicht einsehen. Denn er selbst ist ja seiner Sache nicht sicher, und er braucht uns, um weiterzugehen. Die Retrospektive ist eine an uns gerichtete Frage: Was sagt ihr dazu? Und daß sie eine Frage ist, ist selbst schon Ausdruck der neuen Lebenseinstellung. Die ausgestellten Bilder behaupten nichts, sondern sie stellen in Frage. Es sind keine Deklarationen, sondern Hypothesen. Und diesen hypothetischen Charakter drohen sie zu verlieren, wenn sie als Modelle hingenommen werden.

Wir sind, in dieser eigenartigen Retrospektive, in einer Prospektive in Richtung einer nebelhaften Zukunft. Und das eben, so will es scheinen, berechtigt die Einteilung der Bilder in chronologische Etappen. Die ersten Bilder sind zwar nicht eindeutig, aber dennoch irgendwie klar und deutlich. Die darauf folgenden werden immer schwieriger, und die letzten zerlaufen zu grauen miteinander vernetzten Zonen. Alle Bilder, auch schon die ersten, zeigen in eine Richtung, in der das definitorische Denken einem formalen und relationalen weichen muß, und die letzten Bilder sind dort vielleicht schon angekommen. Wer diese Ausstellung betritt, muß das Gefühl haben, aus der klaren und deutlichen kartesianischen Welt in eine reichere, aber schwierigere hinübergeführt zu werden. Und er gewinnt die Einsicht in das Abenteuer einer solchen Reise.

Diese Überlegungen haben das die Bilder umwebende Klima mit dem Begriff der Eleganz zu fassen versucht, und das will ein ästhetischer Begriff sein. Er meint, daß es Bilder sind, die alles Überflüssige vermeiden, keine Kompromisse mit den Empfängern eingehen und sich daher elitär verhalten. Der Begriff meint, daß die Bilder “ausgezeichnet” sind, aus der allgemeinen Bilderflut durch Strenge und Vermeidung jeder Demagogie hinausgezeichnet. Es sind in diesem Sinn “schöne” Bilder. Und sie fragen: Wie soll das weitergehen? Die Bewohner von Cottbus sollten, beim Hinausgehen aus der Ausstellung, das Gefühl gewinnen, daß von nun ab Cottbus am Rubikon des Bildermachens liegt: Einige Würfel sind dort geworfen worden.

Andreas Müller-Pohle: Was ich nicht sehe, fotografiere ich. Was ich nicht fotografiere, sehe ich. Cottbus: Brandenburgische Kunstsammlungen, 1991