Andreas Müller-Pohle

Visualismus

Die Reflexion über das eigene Medium war nicht nur das zentrale Thema der Konzeptfotografie, sie markiert auch den bislang letzten fundamentalen Ent­wicklungsschritt in der gesamten Geschichte des Mediums. Nachdem die Foto­grafie spätestens zu Beginn dieses Jahrhunderts das Objektinventar der sicht­baren Welt in seinen Grundtypen erfaßt hatte, um sich darauf – insbesondere in den 20er Jahren – dem Wie des fotografischen Sehens zuzuwenden, unternahmen es in den 70er Jahren die Konzeptfotografen, das Medium selbst einer systematischen Grundlagenforschung zu unterziehen. Damit stehen die Fotografen heute auf einem Terrain, das grundlegend neue Entdeckungen als mehr oder weniger aussichtslos erscheinen läßt: Das Feld der fotografischen Ästhetik scheint heute abgesteckt, das Grobraster fotografischer Aussage- und Ausdrucksmöglichkeiten vermessen – eine Landkarte ohne weiße Flecken also.

Eine solche Einschätzung geht davon aus, daß die Fotografie, so wie jedes andere Medium, über ein begrenztes und definierbares Gestaltungspotential ver­fügt, über eine theoretisch bestimmbare Summe möglicher Gestaltungstypen oder -prinzipien, die sich allenfalls im Zuge technischer Neuerungen (wie etwa die Sofortbildfotografie) erweitern läßt. Dies darf nicht mechanistisch verstan­den werden: Einen Endpunkt, an dem alles Sagbare gesagt ist, gibt es sicher nicht. Meine These lautet jedoch, daß die ästhetische Entwicklung der auf konventioneller Technik beruhenden Fotografie in der Breite abgeschlossen ist und daß sich die Aktivitäten der gegenwärtigen Fotografie allesamt als etwas ver­stehen lassen, das man die Weiterentwicklung in die Tiefe nennen kann: die Nuancierung, Differenzierung, Verfeinerung und Verknüpfung von Ideen, die im Laufe der Fotografiegeschichte wohl angesprochen, aber nicht ausformuliert wurden. Dieser Auswertungsprozeß wird vermutlich so lange in Anspruch nehmen, bis eine radikal neue Technologie – die elektronische Bildaufzeichnung – alle jetzigen Verfahrensweisen der Silberbildfotografie zum exklusiven Ana­chronismus erklärt haben wird.

Um jedoch im Bild zu bleiben: Die Weiterentwicklung der fotografischen Ästhetik „in die Tiefe“ schließt auch die Existenz vieler nebeneinander gleich­berechtigter Ausgangspunkte ein und ermöglicht einen ästhetischen Pluralismus, ein kritisches Nebeneinander der verschiedensten Ansätze und Entwürfe, das so lange undenkbar war, wie die Geschichte der Fotografie noch als lineare Folge von Entdeckungen aufgefaßt werden konnte. Die Zeit der Manifeste und Proklamationen dürfte damit einstweilen vorbei sein: Die Dogmatiker haben ausgedient.

So verstehen sich auch die folgenden Ausführungen nicht als Versuch, einer fotografischen Richtung oder „Bewegung“ programmatisch Vorschub zu lei­sten. Ich will vielmehr eine Konzeption des Sehens skizzieren, der weder mit den Begriffen der dokumentarischen noch der konzeptuellen Fotografie Rech­nung zu tragen ist. Diese besondere Art des Sehens nenne ich Visualismus: die Sichtbarmachung der visuellen Welt.1

I

Die Entwicklungsgeschichte des fotografischen Visualismus reicht über nunmehr achtzig Jahre – beginnend mit den per­spektivischen Verfremdungen eines Alexis Mazourine2, program­matisch begründet von Alexander Rodtschenko und Laszlo Moholy-Nagy, in das Reich magischer Poesie geführt von Her­bert List, nach dem Kriege wiederaufgenommen von Otto Stei­nert . . . und mit bemerkenswerten Einzelbeispielen repräsentiert im Werk zahlreicher weiterer Fotografen, von denen hier nur stellvertretend Anton Bragaglia, Herbert Bayer, André Kertesz, Raoul Hausmann, Jaromír Funke und Bill Brandt genannt sein sollen. – Um nun die künstlerische Grundposition des Visualis­mus näher zu bestimmen, bedarf es zunächst einiger allgemeine­rer Vorüberlegungen.

Die Versuche, das Verbindende etwa zwischen dem Kunstpho­tographen Mazourine und dem Konstruktivisten Moholy-Nagy, dem Metaphysiker List und dem Futuristen Bragaglia auf den Begriff zu bringen, bewegten sich bislang zumeist in zwei Rich­tungen. Während noch die genannten Autoren und ihre Zeitge­nossen in den Attributen des Neuen, Experimentellen oder Avantgardistischen angemessene Hinweise auf eine durchweg vom Modernismus geprägte Selbsteinschätzung fanden, setzte sich ab Anfang der 50er Jahre als „inhaltlicherer“ Begriff der der Subjektivität durch. Seitdem wird mehr oder weniger alles, was nicht eindeutig als dokumentarische und konzeptuelle Foto­grafie eingeordnet werden kann, als „subjektive Fotografie“ be­zeichnet, auch die visualistische. Problematisch daran ist vor al­lem, daß sich dieser einst programmatisch gemeinte Begriff aus seinem zeitgeschichtlichen Auftrag heraus zu einer quasi theore­tischen Kategorie verselbständigt hat, ohne daß es gelungen wä­re, ihn von seinem Gegenbegriff, der „objektiven Fotografie“, plausibel abzugrenzen und von der Sache her zu bestimmen. Deshalb sollte als Subjektive Fotografie nurmehr die von Otto Steinert begründete, historisch klar umrissene Bewegung der europäischen Nachkriegsfotografie bezeichnet werden; für die Zwecke einer theoretischen Analyse stehen uns andere, geeigne­tere Kategorien zur Verfügung.

Die Debatte um das Subjektive und Objektive in der Fotogra­fie ist indes nur einer jener späten Versuche, auf ein modernes – ­technisches – Medium anzuwenden, was in Form der Dichotomien Mensch/Natur, Geist/Materie, Individuum/Gesellschaft u. a. seit jeher zu den philosophischen Grundfragesteilungen zählt. Von den zahlreichen weiteren Versuchen, künstlerische Praxis anhand zweier konträrer Grundhaltungen festzumachen, möchte ich einige kurz aufzählen: Moholy-Nagys Unterscheidung zwi­schen reproduktiver Darstellung und produktiver Gestaltung3; das Konzept der „Spiegel und Fenster“ von John Szarkowski4; Peter Bürgers Theorie des „Naturalismus und Ästhetizismus“5. Schließlich eine Klassifikation des marxistischen Kunstkritikers John Berger, der vom Problem der Themensteilung ausgeht. Er schreibt: „Es wird heutzutage oft behauptet, das Sujet spiele überhaupt keine Rolle. Doch . . . in Wirklichkeit ist das Thema buchstäblich der Anfang und das Ende eines Bildes.“ Berger unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Künstlern – solchen, „die sich mit dem Volk identifizieren (van Gogh oder Gaugin in der Südsee)“ und jenen, „die ihre Themen in sich selbst fanden (Seurat oder Cézanne etwa)“ und „ihre Methode des Sehens zu dem neuen Thema ihrer Bilder zu machen“ strebten6.

Ohne den Wertungen, die Berger mit dieser Einteilung im weiteren verbindet, unbedingt zustimmen zu wollen, halte ich seinen Ansatz doch für den aussichtsreichsten, und ich will ihn dahingehend erweitern, daß ich nicht die Themenfindung, son­dern den ihr zugrundeliegenden Wirklichkeitsbegriff eines Künst­lers als Kriterium verwende; genauer: die für ihn relevante Wirk­lichkeit. Denn offensichtlich ist das Wirklichkeitsinteresse der vi­sualistischen Fotografie ein anderes als das der dokumentari­schen.

Der Impetus der dokumentarischen Fotografie gilt der visuellen Bestand­saufnahme der Welt; der Impetus der visualistischen Fotografie der Erforschung der visuellen Welt. Das ist ein Wirklichkeitsbegriff, der uneingeschränkt alles umfaßt, was dem fotografischen Blick zugänglich ist – ohne verpflichtende Kategorien, ohne zwingende Definitionen, ohne verbindliche Bedeutungsfestle­gungen, vielmehr eine Welt, in der mit den Worten des Malers Howard Kano­vitz „alles eine Bedeutung [hat], zugleich . . . nichts bedeutungsvoll (ist)“7.

Ein solches gleichsam metarealistisches Wirklichkeitsinteresse, dem das menschliche Gesicht so wichtig sein mag wie der Schattenwurf eines Maschen­drahtzauns, vermochte sich erst in dem Moment Ausdruck zu verschaffen, als die Fotografie das Gegenstandsarsenal der Welt in ihren konventionellen Bedeutungstypen „gesichtet“ hatte. Dies war spätestens Mitte der 20er Jahre der Fall: keine Objektkategorie, die nicht fotografisch belegt, und mithin keine „Vokabel“, die dem fotografischen „Wortschatz“ noch nicht einverleibt worden war. Nicht das Sehen neuer Dinge stand nunmehr im Vordergrund, sondern das neue Sehen der Dinge. Die erweiterte Wahrnehmung war zugleich ein Schritt in eine neue Realität.

So zielten letztlich alle großen Kunstbewegungen im ersten Viertel dieses Jahrhunderts auf eine Überprüfung und Erweiterung des traditionellen Wirk­lichkeitsbegriffs. Verschieden waren nur die Wege, auf denen die Korrektur und Ausweitung erfolgen sollte: Die Vertreter der Neuen Sachlichkeit wandten sich den modernen Themen eines zusehends von Industrie und Technik geprägten Lebens zu, die Surrealisten fanden und erfanden neue Beziehungen zwischen dem scheinbar Beziehungslosen. Und die Visualisten gaben uns Einblicke in eine unbekannte visuelle Welt, indem sie die alte, auf Konventionen errichtete, verfremdeten.

II

Gewöhnlich sehen wir die visuelle Welt nicht – wir bewegen uns in ihr. Sie ist mehr Orientierungsrahmen für die Abwicklung täglicher Lebenserfordernisse als Gegenstand unserer Wahrnehmung. Denn, so Raoul Hausmann: „Die tote Mechanik unseres durch Newton bestimmten Sehens ist nicht Sehen, ist nicht Wahrnehmen – sie ist nur Trennung der lebendig-dynamischen Erscheinung in lauter rubrizierte Klassen, Kategorien und Begriffe.“8 Was wir – mehr automa­tisch als bewußt – zur Kenntnis nehmen, sind Dinge und Ereignisse als Träger von Bedeutungen: von Konventionen darüber, welches der Nutzen, die Funk­tion, der Kontext und folglich das „richtige“ Aussehen einer Sache zu sein haben. Die Realität der Bedeutungen verdeckt die visuelle Realität der Dinge, paßt sie in Schablonen, reduziert sie auf Formeln. Diesen Formalismus der „gewöhnlichen Wahrnehmung“ zu durchbrechen, um die visuelle Welt in ihr gemäßen Ordnungszusammenhängen sichtbar zu machen, ist Aufgabe der visuellen Künste; in der Fotografie ist es vorrangig die Aufgabe des Visualis­mus.

Indem der Visualismus die Bedeutungskonventionen prinzipiell mißachtet, verletzt er sie: Visualismus ist der Realismus der Abweichung oder – wie Joan Fontcuberta es nennt – die Kontravision9, der visuell formulierte Widerspruch. Das ist nicht zu verwechseln mit der Motivation des Surrealismus, wenngleich „Kontravision“ auch eine surrealistische Komponente einschließt; der grundle­gende Unterschied liegt jedoch darin, daß die surrealistische Fotografie auf der Ebene der semantischen Verfremdung, die visualistische hingegen auf der Ebene der syntaktischen Verfremdung ansetzt: Wo dem Surrealisten das mit Nägeln beschlagene Bügeleisen als Vorlage dient, wo er Wirklichkeiten inszeniert, um sie schließlich im Bilde zu dokumentieren, und wo ihm auch alchimistische Manipulationen ein geeignetes Mittel sind, die Dinge zu verrätseln, konzentriert sich die visualistische Fotografie auf die direkte Wahrnehmung und Abbildung des Gegebenen. Sie gestaltet neue Ordnungen nicht vor, sondern in der Kamera, und ihre Inspiration empfängt sie nicht aus Träumen, sondern vom wachen Auge.

Das Konzept des Visualismus ist weder neu, noch ist es ein spezifisch fotografisches.10 Unbestreitbar hingegen ist, daß die Fotografie die visuelle Welt wie kein anderes Medium erschlossen hat, und wo die fotografische Technik hierbei eine dominante Rolle einnahm, können wir in einem engeren Sinne von einem spezifisch fotografischen Visualismus sprechen: bei der Darstellung von Bewegungsunschärfe etwa oder jener an die Verwendung des Blitzlichts gekoppelten Art des Sehens, der Allan Porter den Namen „photographis interruptus“ gegeben hat.11 Im einen wie im anderen Fall mögen komplexe, informationsreiche Bildstrukturen entstehen, die alles andere als abstrakt wir­ken. Daß sie gleichwohl eine sachliche und repräsentative Aussage verweigern, ist der künstlichen Signatur solcher Gestaltungsformen zuzuschreiben, ihrer deutlich technischen Bedingtheit, die das Vertraute sperrig und fremd erscheinen läßt, ohne jedoch die Authentizität der Abbildung selbst in Frage zu stellen. In diesem sorgsam ausbalancierten Verhältnis zwischen der Darstellung des Vertrauten, Wiedererkennbaren und dessen gleichzeitiger Störung und Ver­fremdung ist denn auch das zentrale Gestaltungsinteresse der visualistischen Fotografie schlechthin zu sehen: Diese ist nur im Grenzfall reine Abstraktion. Denn wo der „Widerspruch“ wirksam sein soll, muß auch die „realistische These“ erkennbar oder zumindest nachvollziehbar bleiben.

Doch die Beispiele des „photographis interruptus“ und der Bewegungsun­schärfe sollten zunächst nur eine spezifisch fotografische Variante des Visualis­mus verdeutlichen, bei der Erscheinungen der visuellen Welt erst durch das fotografische Verfahren sichtbar gemacht, oder genauer: erst vermittels der foto­grafischen Technik zu visueller Realität – Bildrealität – werden.

Grundsätzlich lassen sich nämlich zwei Gestaltungsprinzipien unterscheiden, die ich als strukturelle und als partielle Verfremdung bezeichnen möchte, wobei „Verfremdung“ hier regelmäßig als visueller – und nicht alchimistischer – Trans­formationsakt zu verstehen ist. Zu den Mitteln struktureller Verfremdung zählen die in den 20er Jahren exzessiv angewandten extremen Perspek­tivführungen – Aufsicht, Untersicht, Schrägsicht –, aber auch völlige Abstraktionen, die nicht mehr „Wahrnehmung von etwas“ erlauben, sondern nur noch „Wahrnehmung im Sinne von Unterscheidung“12. Ihnen ist gemein, daß sie, obwohl sie optisch wahre Abbildungen der Wirklichkeit darstellen, ein doch von unseren Wahrnehmungserwartungen strukturell abweichendes Bildgefüge aufweisen. Mit anderen Worten, sie sind getreue Abbildungen von Tatsachen der visuellen Welt, aber nicht Darstellungen der Bedeutungsrealität. – Im zwei­ten Gestaltungsprinzip, der partiellen Verfremdung, ist es demgegenüber nicht mehr die Bildordnung als solche, die sich als Widerspruch gegen die Bedeu­tungsrealität präsentiert, sondern es sind einzelne Elemente dieser Bildordnung, die als „Störungen“ gewissermaßen eingebettet sind in das vertraute Material und so dem Auge Reibung bieten, die glatte Wahrnehmung behindern, den Blick aufhalten in einer ansonsten authentisch erfaßten Struktur.

III

Die dokumentarische Fotografie hat ein primär sachliches und objektbezoge­nes Interesse, die visualistische ein primär ästhetisches und wahrnehmungs­bezogenes. Die sichtbare Welt ist der visualistischen Fotografie nicht Zweck (der Abbildung), sondern Mittel, und das fotografische Bild nicht Mittel, son­dern Zweck.

Ein solches ästhetisches Interesse legitimiert sich ähnlich überzeugend oder nicht überzeugend wie das Interesse an der Erforschung eines fernen Planeten – ich will hier nicht auf die Ideologien eingehen, die jedem Interesse schlecht­hin eine unmittelbare gesellschaftliche Legitimation abverlangen. Statt dessen sollen zwei Gefahrenpunkte aufgezeigt werden, deren sich eine visualistische Fotografie bewußt sein muß.

Visualismus ist Sichtbarmachung der visuellen Welt durch Verletzung, Auf­brechung, Verfremdung von Bedeutungsrealität, ist – unter gestalterischen Gesichtspunkten – sperrige, widrige Sprache, die Fragen aufwirft, nicht Ant­worten gibt. Verschreibt sich das Interesse nur noch der ungewöhnlichen Sicht der Dinge, ohne deren Bedeutungsfestlegung selbst anzuzweifeln, dann mün­det es im Design, im glatten Abglanz der Dinge, deren allenfalls extravaganter, aber widerstandsloser Präsentation. Wie fließend die Grenze zum Design im Einzelfall sein kann, beweist ein bekanntes Bild von André Kertesz (Die Gabel, 1929), dessen ungewöhnliche Sicht dem Besteckfabrikanten Bruckmann will­kommen genug war, um es als Illustration für eine Werbeanzeige zu gebrau­chen, und wie fließend die Grenze im allgemeinen ist, lehrt die Fotografie­geschichte des ersten Drittels dieses Jahrhunderts – der Übergang von der visualistischen Fotografie der 20er in die Design-Fotografie der 30er Jahre.

Nun kann buchstäblich jedes Kunstwerk und jede künstlerische Idee „inte­griert“ werden – was wäre die Werbefotografie ohne den Surrealismus –, wenn nur die individuelle Erfahrung des Künstlers gesellschaftlich, das Unberechen­bare berechenbar, das Neuland Allgemeinplatz geworden sind. Auch die sperrigste Sicht glättet sich mit ständiger Wiederholung. Um so weniger darf der Künstler eine Formalisierung seines Stils betreiben.

Der Formalismus eines Rodtschenko ist nicht etwa darin zu sehen, daß er an den „Formen“ und weniger an den „Inhalten“ interessiert gewesen wäre: Eine solche Unterscheidung ist für die Fotografie unergiebig, da der Fotograf nicht „formt“, sondern gestaltet, und die Kamera nicht Inhalte über die Form erzeugt, sondern – wenn man so will – beides im Zuge ein und desselben Belich­tungsvorgangs abbildet; ich ziehe deshalb den übergeordneten Begriff der Aus­sage vor, worunter ich das Ergebnis eines Gestaltungsakts verstehe. Formali­stisch war Rodtschenkos Ansatz vielmehr, weil er schematische Regeln und Rezepte für das fotografische Sehen postulierte, die dem Formalismus unseres alltäglichen, funktionsorientierten Sehens zwar widersprachen, darin jedoch einer neuen Schematisierung der Wahrnehmung Vorschub leisteten. So schrieb Rodtschenko: „Die interessantesten Standpunkte der Gegenwart sind die ‚von oben nach unten’ und ‚von unten nach oben’ . . . Ich will sie festigen, ver­breiten und sie zur Gewohnheit machen.“13 Das ist ein Konzept, das kaum noch auf einen weitergehenden visuellen Erfahrungsprozeß steuert. Denn wo die visuelle Regel zur Gewohnheit gemacht werden soll und wo sie Nuancierung allenfalls von der Verschiedenartigkeit der abgebildeten Objekte bezieht, hat sie kaum eine Chance, in sich selbst modifiziert und weiterentwickelt zu werden. Das „offene Konzept“ ist deshalb zur wichtigsten Arbeitsform der modernen visualistischen Fotografie geworden, und es unterscheidet sich wesentlich vom Konzeptbegriff der Konzeptfotografie: indem nicht das Ergebnis und seine vor­ausbedachte Wirkung festgelegt werden, sondern der Rahmen, der Aufmerk­samkeits- und Untersuchungsbereich, innerhalb dessen eine Idee erst zu einem Ergebnis führen kann.

Die Renaissance des Visualismus in den 70er Jahren hatte verschiedene Ursachen: die Erkenntnis vieler Fotografen, daß der bloße Faktenreport, wie er in den 60er Jahren für die Periode der „Live-Fotografie“ bestimmend war, an den Fakten selbst nichts zu ändern vermochte; die allgemeine Nivellierung, Stagnation und Aushöhlung der Bildästhetik durch die Massenproduktion der Kommunikationsindustrie; und nicht zuletzt die „optische Askese“ (Wieland Schmied) einer in weiten Bereichen intellektuell versprödeten Kunst, die der Wahrnehmung nicht mehr trauen mochte und dabei ihre Anschaulichkeit ein­gebüßt hatte. Die visualistische Fotografie hat wenig gemein mit jeder dieser Tendenzen. Sie mißtraut der Wahrheit der „bedeutsamen Fakten“; der Flüch­tigkeit einer nur mehr über die Ereignisse gleitenden Kommunikation; dem Objektivismus einer zerebralen Kunst. Was sie anstrebt, ist wenig und viel zugleich: Hinweise zu geben auf jene Wahrheiten, die uns allein die visuelle Welt erschließt.

Anmerkungen

1  Seit einigen Jahren ist zu beobachten, daß sich zahlreiche jüngere Fotografen von einem orthodox verstandenen Dokumentarismus abwenden und sich dabei deutlich der visualistischen Konzeption annähern; diese neueren Trends der europäischen Dokumentarfotografie werden in einer der näch­sten Ausgaben von European Photography berücksichtigt. Im hier vorliegenden Zusammenhang ist im Interesse einer Verdeutlichung der jeweiligen Grundpositionen regelmäßig der idealtypische Dokumentarismus gemeint.

2  Daß vieles von dem, was die Neue Fotografie der 20er Jahre als Pionierlei­stung für sich in Anspruch nahm, bereits in der Periode der Kunstphoto­graphie begonnen wurde, hat vor allem Wolfgang Kemp nachgewiesen; auch der Russe Alexis Mazourine kann heute zu den Vorläufern einer vi­sualistischen Fotografie gezählt werden. – Vgl. Wolfgang Kemp: Foto-­Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie. München: Schirmer/ Mosel, 1978, S. 71 ff.

3  Vgl. Laszlo Moholy-Nagy: Malerei-Fotografie-Film. Mainz: Florian Kupferberg Verlag, 1967 (Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1927).

4  Vgl. John Szarkowski: Mirrors and Windows. American Photography since 1960. New York: The Museum of Modern Art, 1978.

5  Vgl. Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hrsg.): Naturalismus/Ästhetizismus. Frankfurt/Main: edition suhrkamp, 1979.

6  John Berger: Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1973, S. 162 ff.

7  Zitiert nach Peter Sager: Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Il­lusion und Wirklichkeit. Köln: DuMont, 1973, S. 234.

8  Zitiert nach Andreas Haus: Raoul Hausmann. Kamerafotografien 1927–1957, München: Schirmer/Mosel, S. 42.

9  Vgl. Joan Fontcuberta: Kontravisionen: der fotografische Umsturz der Realität. In: Fotografie, Göttingen, Nr. 9, 1979.

10  Es klingt beinahe wie ein visualistisches Bekenntnis, was Jean Cocteau einmal so formulierte: „Plötzlich, wie von einem Blitzstrahl erhellt, se­hen wir den Hund, den Wagen, das Haus zum erstenmal. Kurz darauf ra­diert die Gewohnheit dies trächtige Bild wieder aus. Wir streicheln den Hund, wir rufen nach dem Wagen, wir leben in einem Haus; wir sehen sie nicht mehr. Eben dies ist die Rolle der Dichtung. Sie nimmt den Schleier fort, im vollsten Sinne des Wortes. Sie enthüllt . . . die erstaunlichsten Din­ge, die uns umgeben und die unsere Sinne für gewöhnlich nur mechanisch registrieren.“ – Auf eine Erörterung der Beziehungen etwa der russischen Literaturtheorie der Jahre 1916–1926, der sowjetischen „formalisti­schen“ Filmtheorie, aber auch des zeitgenössischen Realismus in der Ma­lerei zum fotografischen Visualismus muß hier verzichtet werden.

11  Vgl. Allan Porter: Photographis Interruptus, in: Camera, Luzern, Nr. 11, 1977.

12  James J. Gibson: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung. Bern: Ver­lag Hans Huber, 1973, S. 301. Vgl. darüber hinaus Kap. XI (Künstliche Herstellung von „strukturiertem“ Licht), in dem Gibson die Funktionen des Bildes aus wahrnehmungspsychologischer Sicht erörtert.

13  Zitiert nach Rosalinde Sartorti/Henning Rogge (Hrsg.): Sowjetische Fo­tografie 1928–1932. München: Carl Hanser Verlag, 1975, S. 105.

European Photography, Göttingen, Nr. 3, 1980; gekürzter Nachdruck in Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV, 1980–1995. München: Schirmer/Mosel, 2000. ISBN 3-88814-729-8