Vilém Flusser

Visualismus/Dokumentarismus laut Müller-Pohle

Seltsam, wie sich gesprochenes von geschriebenem Wort unterscheidet. Auch wenn das gesprochene das geschriebene vorliest. Als mich Willmann anläßlich des 6. Internationalen Fotosymposiums in Wien aufforderte, über Müller-Pohles Beitrag kritisch zu berichten, hatte ich seinen Vortrag in Ohren. Jetzt habe ich auch sein Manuskript vor Augen. Diese beiden „Landschaften“, die akustische und die visuelle, decken sich zwar Punkt für Punkt (es sind „bi-univoke Mengen«), und doch hat jede von ihnen eine andere Stimmung. Der gesprochene Beitrag ist polemisch: eine Apologie des Visualismus. Der geschriebene ist didaktisch: eine ausgewogene Gegenüberstellung der Argumente für und gegen. Das muß am Medium liegen. Die akustische Mediation scheint sich in anderen Existenzkategorien als die visuelle zu bewegen. Ist dies ein Beitrag zum Problem „Visualismus«?

Nicht, wenn wir Müller-Pohles Ausführung folgen. Er definiert nämlich den Begriff „Visualismus“ nicht etwa im Gegensatz zu „Akustismus“, „Haptismus“ oder „Flavorismus“, sondern im Gegensatz zu „Dokumentarismus«. Sein Problem ist nicht, daß jede Fotografie unerhört, unbegreiflich und geschmacklos ist, weil sie aus der Welt einige elektromagnetische Aspekte unter Verlust aller akustischen, greifbaren und chemischen Aspekte herausholt. Sondern sein Problem ist, daß manche Fotografien anderes sichtbar machen als andere. Seine enge Definition des Visualismus hat den Nachteil, daß sie einen wesentlichen Aspekt des fotografischen Universums verhüllt: nämlich die Tatsache, daß es ein visualistisches Universum ist, welches, für sich allein, die konkrete Lebenswelt verstümmelt und verarmt. Seine Verwendung des Begriffs „Visualismus“ tarnt die Tatsache, daß eine vorwiegend von Bildern codierte Kultur wie die unsere, eben eine „visualistische“ Kultur, den Menschen die Ohren verstopft, die Finger lähmt und die Zunge bindet.

Dafür hat aber seine Definition des Begriffs „Visualismus“ einen nicht hoch genug einzuschätzenden Vorteil. Der derartig von Müller-Pohle visualisierte Visualismus erlaubt uns nämlich einzusehen, wie auch die Augen von einer in Bildern codierten Kultur vergewaltigt werden. Eine so codierte Welt reduziert die Menschen nicht nur zu Voyeuren, sondern zu eingezwerchten Voyeuren, welche auf die Wirklichkeit dort draußen nur durch Schlüssellöcher und Drahtnetzösen hindurchschauen können. Diese Löcher und Ösen, diese „Sichtkonventionen“, sind die Öffnungen in den Kulturmauern, hinter denen die Fotografen sitzen. Sie fotografieren durch diese Löcher und Ösen. Diese Visualisation unserer Kultursituation erlaubt Müller-Pohle, zwischen zwei Typen von Fotografen zu unterscheiden. Der eine sitzt hinter dem Loch und versucht, soviel als möglich, so genau wie möglich und soweit wie möglich durch das Loch hindurch aufzunehmen. Der andere sitzt hinter der Mauer und versucht, ein neues Loch in sie einzuschlagen, um dadurch eine neue Ansicht auf die Wirklichkeit dort draußen zu gewinnen. Den ersten Typ nennt Müller-Pohle »Dokumentaristen“, den zweiten „Visualisten«.

Das ist ein außerordentlich fruchtbarer Blick auf das fotografische Universum. Denn er erlaubt, das Engagement der Fotografen an ihren Bildern im Kontext der Kultursituation zu sehen. Das „dokumentarische“ Engagement wird als Versuch ersichtlich, die gegebene Situation voll auszuwerten, alle von ihr uns gebotenen Möglichkeiten auszubeuten. Das „visualistische“ Engagement wird als Versuch ersichtlich, die Situation nicht als gegeben hinzunehmen, sondern aus ihr auszubrechen. Für einen Nichtfotografen wie mich ist die von Müller-Pohle getroffene Unterscheidung außerordentlich aufschlußreich, sie erlaubt mir, die mir zugänglichen Fotografien von einem bedeutsamen Standpunkt aus neu zu betrachten, und sie hat für mich keine wie immer geartete parteiische Färbung. Beide Engagements, das „dokumentarische“ und das „visualistische“, haben die Absicht, mich in meinem Kulturkerker nicht verkommen zu lassen, jedes auf seine Weise. Für einen Fotografen allerdings hat Müller-Pohles Distinktion die Färbung einer Kriegserklärung an die „Dokumentaristen«. Denn sie sagt: „Wenn du, Fotograf, dich mit den Schlüssellöchern und Netzösen begnügst und wenn du nur aufnimmst, was sie gestatten, dann wirst du zu einem Werkzeug der Kerkermeister.“ Das ist die Erklärung für den klimatischen Unterschied zwischen Müller-Pohles gesprochenem und geschriebenem Beitrag: Er hat zu Fotografen gesprochen und für Nichtfotografen geschrieben, wahrscheinlich, um die tauben Fotografen aufhorchen zu machen und die blinden Nichtfotografen einsichtig zu machen.

Betrachtet nun ein von technischem Wissen nicht vorbelasteter Nichtfotograf die von Müller-Pohle vorgeschlagene Einteilung der Fotografien etwas näher, dann kommen ihm einige Gedanken. Der erste betrifft die Schlüssellöcher. Das sind doch wohl ganz spezifische Formen? Etwa jene, die von Kant „Anschauungsformen“ genannt wurden? Das heißt: Sind diese Formen etwa nicht nur für diesen Kerker hier, für diese Kultur hier, sondern für den Menschen überhaupt spezifisch? Und das heißt auch: Wenn die „Visualisten“ anderswo in die Kerkermauern Löcher hineinschlagen, werden diese Löcher nicht genau so sein wie die Schlüssellöcher? Nur eben an einer anderen Stelle der Mauer? Der zweite Gedanke betrifft den Fotoapparat. Ist er denn nicht, im Grunde genommen, ein Stück der Mauer, und ist sein Loch nicht eben gerade jenes Schlüsselloch, durch welches die „Dokumentaristen“ schauen? Sollten also die „Visualisten“ nicht zuerst einmal die Apparate umbauen? Der dritte Gedanke betrifft das Auge und die dahintersteckenden, „Gehirn“ genannten, Komplikationen. Ist vielleicht dieser Auge-Gehirn-Komplex der Hammer, dank welchem überhaupt Löcher geschlagen werden können? Solche Gedanken führen den Nichtfotografen zu folgender Auslegung des „Visualismus“ Müller-Pohles:

Dort draußen, irgendwo in unzugänglichen Gebieten, liegt, was man die konkrete Welt nennt. Der Weg zu ihr ist vermauert. Diese „Kultur“ genannte Mauer hat spezifisch geformte Löcher. Diese Löcher sind von Kerkermeistern gemacht worden, sie sind „historisch“, aber ihre Formen sind diesen Baumeistern irgendwie vorgeschrieben gewesen. Vielleicht durch Darwin? In jüngster Zeit haben die Kerkermeister die gelochte Mauer verbessert. Diese Verbesserung heißt „Fotoapparate«. Die „Dokumentaristen“ sind ihnen auf den Leim gegangen. Aber was die Kerkermeister vorläufig nicht verbessern konnten, ist der Komplex „Auge – Gehirn«. Von dort aus könnte man eigentlich neue Schlüssellochformen erfinden. Das Engagement der „Visualisten“ ist am Gehirn.

Sollte dieser Gedankengang richtig sein, dann sind die „Visualisten“ im Sinne Müller-Pohles gerade nicht Visualisten, sondern Intellektualisten. Sie wollen nicht nur einfach sehen, sondern sie wollen etwas Neues, vorläufig Unsichtbares, nur Gedachtes sehen. Die „Visualisten“ Müller-Pohles glauben an die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Unsichtbares sichtbar zu machen. An die menschliche Freiheit. Und das unterscheidet sie von den „Dokumentaristen“ im Sinne Müller-Pohles, welche die menschliche Begrenztheit, die menschliche Bedingtheit belegen. Aber auch so gesehen, sind diese beiden Kategorien von Fotografen nicht im Widerspruch zueinander, sondern sie ergänzen einander. Um die Grenzen des Sichtbaren sprengen zu können, muß man doch wohl zuerst diese Grenzen erreicht haben? Mir scheint, die „Visualisten“ Müller-Pohles stehen auf den Schultern seiner „Dokumentaristen«.

Müller-Pohle befindet sich, mit seinem Glauben an den Menschen als Seher des Unsichtbaren, in ausgezeichneter Gesellschaft. Der besten. Seine nächsten Verwandten sind die Phänomenologen. Das sind Leute, die ebensowenig wie er „dokumentieren“ wollen. Das heißt: ebensowenig wie er die Welt immer nur durch die gleichen Löcher ansehen wollen. Diese Leute meinen, man habe schon viel zuviel, zu gut und zu genau „dokumentiert“, und das Resultat davon sei die sogenannte „objektive Wissenschaft“ gewesen. Eine Wissenschaft, die den Menschen immer mehr bedingt und ihn zu vernichten droht, statt ihn zu befreien. Daher schlagen diese Leute vor, einmal mit dem „Dokumentieren“ aufzuhören (alle bereits aufgenommenen „Dokumentarfotografien“ vorläufig abzulegen, um sie später einmal zu verwenden) und sich die Welt aufs frische anzusehen. So, als ob man sie noch nie vorher gesehen hätte. Mit frischen Augen. Das heißt: mit einem frischen, sekundär „naiven“ Gehirn. Dann wird man sehen, wie unglaublich „ungewöhnlich“, nämlich zugleich herrlich und entsetzlich, die Welt ist. Und dann erst, wenn man das gesehen hat (die „Phänomene“ gesehen hat), kann man überhaupt hoffen, eine den Menschen tatsächlich befreiende Wissenschaft, mitsamt den abgelegten, „ausgeklammerten“ Dokumentarfotografien, aufzubauen.

Allerdings hat Müller-Pohle vor den Phänomenologen der nichtfotografierenden Sorte einen technischen, vielleicht zukunftsträchtigen, Vorteil. Was nämlich diese Phänomenologen vorschlagen, ist ein Tanz um die „Phänomene“. Sie meinen, man könne den „objektiven“ Schlüssellöchern entkommen, wenn man sich die Welt von allen möglichen Standpunkten aus anschaut, wenn man um sie herumschwirrt. Aber da die Zahl der möglichen Standpunkte der Welt gegenüber unendlich groß ist, da „konkret“ eben heißt, unendlich viele Aspekte zu haben, werden die Phänomenologen nie fertig. Eine ihrer Ansichten verschwimmt immer wieder mit allen anderen schon gesehenen und noch nicht gesehenen. Müller-Pohle hingegen hält einen Fotoapparat in Händen. Das ist eine Maschine, welche für das Erzeugen diskreter, voneinander klar getrennter Ansichten gebaut ist. So daß, wenn er um die konkrete Welt herumschwirrt, seine „ungewöhnlichen“, herrlichen und entsetzlichen Ansichten klar und distinkt festgehalten werden. Auch er wird zwar nie fertig, was er aber vorläufig gesehen hat, das ist immer fertig.

Sieht man sich Müller-Pohles „Visualismus“ vom Standpunkt der Phänomenologie aus an, dann erkennt man den Kern der Sache. Die Fotografien, die er macht und die zu machen er empfiehlt, sind Bestandsaufnahmen einer vorläufigen, nie zu beendenden, „ungewöhnlichen“ Sicht auf die konkrete Welt dort draußen. Sie sollen zwei Zwecken dienen. Erstens sollen sie die „gewöhnlichen“, von der sogenannten „objektiven“, „dokumentarischen“ Sicht aus gemachten Ansichten vorläufig einmal ad acta legen lassen. Und zweitens sollen sie in der Zukunft einmal ermöglichen, eine neue Art von Wissenschaft herzustellen. Und das wäre eine Wissenschaft, die zugleich auch eine Politik und eine Kunst wäre. Denn es würde sich bei ihr nicht nur um ein Erkennen, sondern auch um ein Werten und ein Erleben der konkreten Welt dort draußen handeln. Das Engagement des „Visualismus“ von Müller-Pohle ist also letzten Endes ein Engagement an einer zukünftigen neuen Wissenschaft, neuen Politik, neuen Kunst, also letzten Endes nichts weniger als ein Engagement an einem neuen Menschen.

Gegen ein solch edles Engagement hätten die nichtfotografierenden Phänomenologen (und ihre Vorgänger in der Geschichte) nichts einzuwenden. Es ist das ihre. Wohl aber gegen die Müller-Pohlesche Methode. Denn wie will er das eigentlich machen? Mittels Fotoapparaten? Sind denn das nicht gerade jene „objektiven“, „dokumentierenden“ Löcher, gegen die es gilt, zu sehen? Kommen denn bei ihm nicht auch „Dokumente“ heraus, nur eben „ungewöhnliche“ Dokumente? Nicht um ein „ungewöhnliches Dokumentieren“ geht es doch, sondern um eine radikale Umstellung des „Gehirns“, um eine „eidetische Reduktion“, um ein neues Denken? Die phänomenologische „Gegenvision“ soll doch gerade gegen solche fotoapparatischen Löcher schauen?

Ich kann mir vorstellen, daß Müller-Pohle darauf eine Antwort parat hat. Er kann nämlich sagen: Aber das ist doch gerade das, was ich mache und zu machen empfehle. Nämlich gerade nicht durch das Loch des Apparats zu schauen, sondern sich dieses Loch anzuschauen. Das ist doch gerade der Unterschied zwischen meinen Dokumentaristen und meinen Visualisten, daß die Dokumentaristen durch das Loch schauen, während sich die Visualisten das Loch anschauen, um zu sehen, was man damit machen könnte.

Ob diese (oder eine so ähnliche) Antwort die Phänomenologen befriedigt, ist eine hier nicht zu entscheidende Frage. Ich meine, um sie zu beantworten, muß man sich Müller-Pohles Fotografien ganz gründlich anschauen. Das habe ich versucht und bin vorläufig zu keinem endgültigen Befund gekommen. Man wird ihn wohl noch eine Zeitlang weitermachen lassen müssen. Jedenfalls ist, was er und einige andere tun, ein Abenteuer von nicht zu unterschätzenden möglichen Folgen. Es ist nämlich einer der Schritte einer neuen Weltsicht und damit einer neuen Wissenschaft, Politik und Kunst entgegen. Nicht zwar einer „visuellen“ Sicht (jede Sicht ist visuell), aber einer nichtobjektiven.

Vilém Flusser: Standpunkte. Texte zur Fotografie. Göttingen: European Photography, 1998. ISBN 3-923283-49-0. Geschrieben im Januar 1982 für die Zeitschrift „Camera Austria“; dort nicht veröffentlicht